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Mit Worten Welten erschließen

Geschichten gibt‘s in jeder Sprache - mehrsprachiges Erzählen in Bremen


von Julia Klein

Das Bundesland Bremen war am bundesweiten BLK Programm FörMig (Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund) mit drei Programmelementen beteiligt, eines davon war dem Erzählen von Geschichten gewidmet. Von Herbst 2004 bis zum Herbst 2007 wurde das Erzählen als Mittel der Sprachförderung bei zweisprachigen Kindern eingesetzt, zeitweise hatte ich im Rahmen dieses Projektes eine halbe Stelle als Geschichtenerzählerin, was deutschlandweit einzigartig gewesen sein dürfte.

An dem Projekt waren Pädagog*innen aus sieben Kindergärten und sechs Grundschulen, der Senator für Bildung, das Lehrerfortbildungsinstitut (LIS) und die Universität Bremen beteiligt, die wissenschaftliche Leitung hatte Prof. Dr. Johannes Merkel.

In den beteiligten Einrichtungen wurden regelmäßig Erzählaktionen mit Geschichten durchgeführt, die typische grammatikalische Stolpersteine des Deutschen beinhalten und Ausgangspunkt für weitere Übungseinheiten sein können. Zielgruppe war das letzte Kindergartenjahr die Klassenstufen eins bis drei der Grundschule.

Die Anteil der Kinder mit Migrationshintergrund in den beteiligten Schulen und Kindergärten lag bei zwischen 50-90%, was eine Einbeziehung der Erstsprachen sinnvoll erscheinen ließ.


Deswegen fanden ab Mai 2005 auch zweisprachige Erzählaktionen statt. Zwei Studentinnen der Bremer Universität, die eine mit türkischem, die andere mit russischem Migrationshintergrund, gingen unter meiner Anleitung jeweils in eine Kindergartengruppe oder Schulklasse, in der einige Kinder mit Russisch bzw. Türkisch als Erstsprache waren.

Dort stellte die Studentin sich vor und kündigte an, eine Geschichte in zwei Sprachen zu erzählen. Sie fragte die Kinder, wer russisch oder türkisch spräche und forderte alle anderen Kinder auf, genau zuzuhören und auf ihre Mimik und Gestik zu achten. Anschließend erzählt sie die Geschichte auf Russisch, bzw. Türkisch, mit deutlicher Mimik und Gestik.

Die Geschichten enthielten typischerweise wiederkehrende Elemente, zum Beispiel ein Lied, das immer wieder gesungen wurde oder einen Reim mit klaren Gesten. Diese Teile verleiteten auch die Kinder zum Mitmachen, die die Sprache nicht verstanden. Im Anschluss an die russisch- oder türkischsprachige Erzählung schilderten die nicht-russisch bzw. nicht-türkischsprachigen Kinder, was sie verstanden hatten. Sie stellten Vermutungen an, wovon die Geschichte handelte, und zählten auf, welche Worte ihnen bekannt vorgekommen waren.

Mit Hilfe der russisch/türkischsprachigen Kinder erzählte die Erzählerin die Geschichte dann noch einmal auf Deutsch und verwendete die gleichen klaren Gesten und Mitmachelemente.

Situationsabhängig wurde die Geschichte noch einmal nachgespielt. Zu jeder Geschichte gab es einen Vorschlag für eine weiterführende Mal-, Schreib- oder Bastelaktion, die entweder im Anschluss oder zu einem späteren Zeitpunkt durchgeführt werden konnte.

Zum Einsatz kamen traditionelle Geschichten aus Russland und der Türkei, die die Studentinnen selbst ausgewählt hatten. Auf einen eigenen Bezug der Erzählerinnen zu den Geschichten wurde besonderer Wert gelegt.

Nach insgesamt dreißig auf diese Weise durchgeführten Erzählaktionen ließ sich Folgendes feststellen:

- durch das Erzählen in ihren Erstsprachen wurden auch diejenigen Kinder zum Sprechen und Mitmachen angeregt, die sich sonst selten sprachlich äußerten. Teilweise kommentierten sie die Geschichte auf Russisch oder Türkisch. Teilweise übersetzten sie schon während des ersten Erzählens einzelne Worte für ihre Mitschüler*innen. Manchen Kindern war der Stolz auf den Wissensvorsprung deutlich anzumerken. Bereitwillig halfen sie beim Erzählen auf Deutsch mit.


- entgegen der anfänglichen Befürchtungen der Pädagog*innen hörten auch die nicht-türkisch, bzw. nicht-russischsprachigen Kinder gespannt zu. Entscheidend war hierfür der Einsatz großer Gestik und wiederkehrender Elemente. Immer wieder wurde auch beobachtet, wie erstaunt die Kinder ihre russisch- bzw. türkischsprachigen Mitschüler*innen anschauten, wenn diese sich eifrig beteiligten.

- deutlich erkennbar war die Freude der Kinder darüber, dass ihre Erstsprache in einer deutschen Institution zur Geltung kam, was nach wie vor leider keine Alltäglichkeit ist. Sie waren sichtlich neugierig, mehr über Herkunft und aktuelle Lebenssituation der Erzählerinnen zu erfahren.


Julia Klein, Bremen, im Herbst 2007