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Mit Worten Welten erschließen



Eine Schule ist ein Universum für sich. Und weil das Universum aus Geschichten, nicht aus Atomen besteht, wie die Schriftstellerin Muriel Rukeyser sagt, was liegt da näher, als die Geschichten, aus denen dieses Universum Schule besteht, einzufangen, abzulauschen und weiter zu erzählen?

Dies ist die Zielsetzung einer „Sternenreise“: dass alle Menschen, die an einer Schule lehren, lernen oder anderweitig beschäftigt sind, sich auf die Suche nach ihren Geschichten machen und sie mit anderen teilen.

Am Ende der Reise steht die Präsentation eines Buches, zu dem jeder und jede eine Geschichte beigetragen hat, und das es den Bewohnerinnen und Bewohnern dieses Universums ermöglicht, einander anders kennen zu lernen und zu erleben, als es der Schulalltag vielleicht sonst zulässt.

Anfang 2008 beschloss der Geschichtenerzähler Martin Ellrodt, die Idee eines kanadischen Kollegen zu importieren und an einer deutschen Schule erstmals umzusetzen. Um die Wege kurz zu halten, aber auch wegen des besonderen Förderungsbedarfs, wurde in Absprache mit dem Quartiersmanagement die Grundschule Rosenstraße ausgewählt und angefragt – sie befindet sich im Wohnviertel des Erzählers. Dort stieß das Projekt auf großes Interesse, und so wurde nach einer Präsentation der Idee vor dem versammelten Kollegium im Februar beschlossen, die Sternenreise in den Monaten Juni und Juli durchzuführen und die Beteiligten quasi mit dem Ergebnis, dem Geschichtenbuch, in die Sommerferien zu schicken.

Als Vorbereitung für die Lehrerinnen und Lehrer führte Martin Ellrodt am 26. Mai 2008 eine schulinterne

Fortbildung zum Thema „Geschichten erzählen“ statt. Die TeilnehmerInnen bekamen Methoden vermittelt, zum einen die eigene Erzählkompetenz, zum anderen die ihrer Schülerinnen und Schüler zu fördern. Es wurde wert darauf gelegt, in der Mündlichkeit zu bleiben, d.h. die Geschichten nicht in eine schriftliche Form zu überführen, und den jeweiligen Erzählern die vollständige Autorschaft über ihre Geschichten zu belassen: die Zuhörer fungieren als Berater, nicht als Beurteilende des Erzählers.

Eine Woche später, am 2. Juni 2008, fand die Auftaktveranstaltung für die ganze Schule statt. In der Turnhalle der Schule stellte der Geschichtenerzähler das Projekt in Form einer verschachtelten Geschichte vor und warb bei den versammelten 180 Schülerinnen und Schülern, dem Kollegium und dem Hausmeister um Mitarbeit. Die Rahmengeschichte erzählte die Traum-Sternenreise eines Schülers, der ganz neu an eine Schule gekommen war, darin eingebettet wurden biographische Geschichten aus dem Leben des Erzählers sowie Märchen aus verschiedenen Ländern der Welt. Am Schluss der Geschichte erging die Bitte an alle Versammelten, sich nun selbst auf den Weg zu den Geschichtensternen zu machen. Um „den Weg“ deutlich zu markieren, wurde mit Hilfe einer meterlangen Papierbahn eine Sternenkarte erstellt, auf der alle Beteiligten ihren Namen mit Aufklebern in leuchtenden Farben anbrachten.

In den folgenden Wochen fanden nun in den einzelnen Klassen regelmäßig Erzählkreise statt. Als erstes wurde ein Erzählstab gebastelt, der demjenigen, der ihn hielt, das Rederecht verlieh und die Aufmerksamkeit sichern sollte. Dann fingen die Schülerinnen und Schüler an, sich mit Hilfe verschiedener Übungen erzählbare Geschichten zu erarbeiten – je nach Klassenstufe und Lehrplan fanden diese Erzählkreise unterschiedlich häufig und lange statt.

In dieser Phase der Sammlung und Bearbeitung von Geschichten, die sechs Wochen dauerte, fand sich der Erzähler einmal wöchentlich vor Unterrichtsbeginn im Lehrerzimmer ein, um eine „Sprechstunde“ anzubieten.

Die Lehrerinnen und Lehrer wurden nach ihren Erfahrungen befragt und Hilfestellung bei Hindernissen und aufgetretenen Problemen hinsichtlich der Moderation der Erzählkreise geleistet. In zwei Fällen besuchte der Erzähler auch den Erzählkreis einer Klasse, um die genannten Schwierigkeiten vor Ort zu klären.

Die Einrichtung von Erzählkreisen wurde von der Mehrheit der Schüler mit Begeisterung aufgenommen. Aus einer zweiten Klasse kam die Rückmeldung einer Lehrerin, die Schüler hätten zwei Stunden am Stück im Erzählkreis ausgehalten und nur aufgehört, weil die Lehrerin darauf bestanden hatte.

Im Lauf der Zeit zeigte sich allerdings, dass die ursprüngliche Idee, biographische Geschichten aus den jeweiligen Familien zu sammeln, abgeändert werden musste. Mehrheitlich kam von den SchülerInnen die Rückmeldung: „Mein Vater / Onkel / meine Mutter / Tante weiß keine Geschichten / hat keine Zeit / will mir nichts erzählen...“ Es bleibt offen, ob sich die Eltern im Vorfeld des Projektes nicht ausreichend von uns informiert gefühlt hatten – den Kindern wurden beim Auftakt Zettel für die Eltern mitgegeben, nach Aussage der Schulleitung sei es aber üblich, dass der Inhalt solcher Mitteilungen nicht zur Kenntnis genommen wird – oder ob in den Familien dieses Schulsprengels tatsächlich nur noch wenig Kommunikation über die Notwendigkeiten des Alltags hinaus statt findet. Dementsprechend wurde der Auftrag, Geschichten zu sammeln, auf Märchen und selbst erdachte Geschichten erweitert.

Weil am Ende des Projekts ein handfestes Ergebnis in Form eines Buches stehen sollte, mussten sich die Beteiligten schließlich für eine Geschichte entscheiden, die sie dort veröffentlichen wollten und die deswegen verschriftlicht werden musste. Um die Schreibfähigkeit der SchülerInnen war es nicht nur altersbedingt sehr unterschiedlich bestellt, also wurde die folgende Lösung gefunden: wer immer wollte, konnte seine / ihre Geschichte selbst verschriftlichen – eine 4. Klasse zog dazu in den Computerraum um und händigte dem Erzähler nach kurzer Zeit eine Diskette mit allen Textdateien aus. Mit allen anderen, die sich mit dem Schreiben nicht wohl fühlten, oder im Fall der Erstklässer noch gar nicht so weit sein konnten, wurde ein Geschichten-Interview durchgeführt: ein Grundkurs Deutsch K12 des nahe gelegenen Schliemann-Gymnasiums hatte sich bereit erklärt, für einen Vormittag in die Grundschule zu kommen, sich dort im Computerraum eins zu eins die Geschichten erzählen zu lassen und nieder zu schreiben. Für beide Seiten war diese Veranstaltung ein eindrückliches Erlebnis.

Die so verschriftlichten Geschichten wurden nun ausgedruckt und den Kindern mit nach Hause gegeben, damit die Eltern ihr Einverständnis zur Veröffentlichung geben konnten; in den allermeisten Fällen war das kein Problem, bei drei SchülerInnen verweigerten die Eltern explizit die Zustimmung, bei drei anderen kam sie zu spät, so dass die Geschichten keine Berücksichtigung mehr finden konnten.

Das Ziel, alle mit der Schule verbundenen Menschen zu beteiligen, wurde nicht ganz erreicht: der Hausmeister weigerte sich rundweg, auch nur den Hauch einer Geschichte zu erzählen („So was mach ich net!“), und mit den Reinigungskräften wurde zwar eine Zusammenarbeit vereinbart, aber nicht durchgehalten. Auch einige Lehrer hatten bis zum allerletzten Termin keine Geschichte abgegeben.

Eine schöne Bereicherung erfuhr das Projekt durch die Beteiligung einer im Viertel lebenden Künstlerin, die durch eine mit ihr befreundete Schülerin darauf aufmerksam wurde: sie bot sich an, das Buch zu illustrieren und hatte hierzu die wunderbare Idee, je Klasse eine Illustration in der Art eines Wimmelbildes zu erstellen, in dem sich ein Detail aus jeder einzelnen Geschichte entdecken ließ. Selbst die ihr aus Kostengründen auferlegte Beschränkung auf Einfarbigkeit meisterte die Künstlerin, die sonst ausgesprochen farbenfrohe Werke fertigt, bravourös.

Die Phase der Verschriftlichung, des Einholens der Zustimmung, des Layouts und des Druckes nahm eine weitere Woche in Anspruch. Am 25. Juli 2008 war es dann soweit: druckfrisch kamen die Bücher direkt auf den Schulhof, wo in Gegenwart der SchülerInnen, des Kollegiums, vieler Eltern, des Elternbeirats und des Bürgermeisters drei Klassen zunächst ein kleines festliches Programm mit Tanz und musikalischen Beiträgen darboten, bevor dann die Bücher feierlich ausgepackt, präsentiert und an alle Anwesenden verteilt wurden.

Anschließend kehrte auf dem Schulhof eine beeindruckende Stille ein, weil überall die Kinder und die Erwachsenen saßen, neugierig in den Büchern lasen und sich ihre Geschichten zeigten.

Als Nachklang vereinbarten die Schulleitung und der Geschichtenerzähler, bei den Fürther

Kinderkulturwochen im Oktober 08 das Projekt vorzustellen: Martin Ellrodt erzählte bei einer Nachmittagsveranstaltung von Entstehung, Verlauf, den schwierigen und den gelungenen Momenten des Projektes, immer wieder unterbrochen durch live erzählte Geschichten von insgesamt neun SchülerInnen, die sich dazu bereit erklärt hatten.

Die fröhlichen Reaktionen der Kinder bei einer zufällige Begegnung auf der Straße mit dem Geschichtenerzähler auch noch Monate nach Beendigung des Projekts zeigen diesem, dass es ihnen wohl in guter Erinnerung geblieben ist. Lehrerinnen und Lehrer berichten, dass Schüler z.T. heute noch ihr Exemplar des Buches in der Schultasche herumtragen; auch im Buchregal der Kindertagesstätte und des Kinderbuchhauses im Stadtteil hat es seinen Ehrenplatz gefunden. Somit erscheint die Hoffnung, dass dieses Projekt über zwei Monate hinweg eine Nische der Phantasie, der Kommunikation und der Begegnung geschaffen und langfristig zur Stärkung des Selbstbewusstseins einiger SchülerInnen beigetragen hat, nicht ganz illusorisch.


Martin Ellrodt, im Mai 2009


 

Sternenreise:

der Kosmos Schule wird erforscht


von Martin Ellrodt