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Mit Worten Welten erschließen

Wider den Ungeist des Nacherzählen(lassen)s


von Martin Ellrodt


Neulich rief mich eine Kollegin an, die auch in ihrer Stadt ein Erzählprojekt an Schulen starten möchte, wie sie schon in einigen deutschen Städten erfolgreich seit längerem laufen: die professionell Erzählenden kommen regelmäßig, meist einmal die Woche, in die Klassen und bringen jedes Mal zum einen neue Geschichten und zum anderen pädagogisch mehr oder weniger sinnvolle, das Erzählen begleitende Maßnahmen mit.


Um sich nun zu orientieren, nahm die Kollegin Kontakt auf mit Erzähler*innen, die bereits in solchen Projekten arbeiten, und ließ sich ein bisschen aus deren Praxis erzählen. Dabei stellte sie fest, dass in so gut wie allen Projekten das Nacherzählenlassen fester Bestandteil jeder Intervention war: in der Regel lassen dabei die Erzähler*innen die in der Vorwoche erzählte Geschichte von den Schüler*innen „nacherzählen“. Im weiteren Verlauf der Gespräche fiel ihr auf, dass diese Übung einerseits als wesentlich und wichtig beschrieben, andererseits aber überwiegend von den großen Schwierigkeiten bei ihrer Durchführung berichtet wurde. Bei der Kollegin regte sich intuitiver Widerstand. Und schließlich wählte sie meine Nummer. Das mit ihr geführte Telefonat brachte bei mir einiges in Bewegung und war dann auch der Anlass zu diesem Pamphlet.


Kann sich jemand außer mir noch so gut an die Momente im Unterricht erinnern, als wir vom Lehrer aufgefordert wurden, eine Geschichte, die wir alle vorher zwangsweise gelesen oder gesehen oder gehört hatten, „nach“ zu erzählen? An diese Mischung aus bleierner Langeweile, was den zu erwartenden Inhalt betraf, weil ja alle die Geschichte schon kannten, der Aufregung, die Aufmerksamkeit des Lehrers auf sich zu lenken, dem Ehrgeiz, sich an etwas zu erinnern, dass alle anderen vergessen hatten und der Vor- auf die Schadenfreude, wenn ein Mitschüler etwas falsch wiedergab?


Mit dem Erzählen von Geschichten und seiner Schönheit hat all das nichts zu tun. Es handelt sich um ein pädagogisch induziertes Missverständnis: der Begriff Nacherzählen taucht zu 99% in pädagogisch-instruktiven Kontexten auf, als Aufforderung einer hierarchisch höher gestellten Person, „jetzt mal die Geschichte von letzter Woche zu nachzuerzählen“. Kaum jemand würde ohne eine entsprechende Aufforderung und dem damit einhergehenden Vollzugszwang, also in einer alltäglichen oder auch künstlerischen Situation, von sich sagen, dass sie gerade eine Geschichte nacherzählen. Wonach denn?


Auch in begriffstheoretischer Hinsicht ist die Rede vom „Nacherzählen“ als kommunikativer Tätigkeit sinnlos oder widersprüchlich. Entweder zielt man auf den Situationscharakter des mündlichen Erzählens ab, dass - im Unterschied zum Rezitieren - nicht an eine bestimmte Textgestalt gebunden ist, d.h. die Erzählenden haben alle Freiheiten, ihren Text inhaltlich und formal so zu gestalten, wie es ihnen gefällt und die Beziehung zu den Zuhörenden erfordert. Nacherzählen ist dann ein Widerspruch in sich, genauso wie der Versuch, einen schönen Spaziergang, den man am Vortag gemacht hat, Schritt für Schritt zu wiederholen. Oder aber man legt den Fokus auf die inhaltliche Wiedergabe einer zuvor rezipierten oder erlebten Geschichte, dann aber ist alles Erzählen ein Nacherzählen. Der Begriff wird so zur Tautologie und damit vom Erzählen selbst nicht unterscheidbar.


Was soll denn nun mit dieser Übung bezweckt werden? Gedächtnistraining? Aufmerksamkeitstraining? Diese Dinge mögen ihre Berechtigung haben, doch würde ich dafür plädieren, dafür andere Anlässe und Objekte zu nutzen als ausgerechnet eine zuvor erzählte Geschichte. Denn die Mechanismen, die in den meisten Fällen bei der Übung des „Nacherzählenlassens“ im Klassenverband wirksam werden, haben entweder keine oder sogar schädliche Auswirkungen auf die Herausbildung der individuellen Erzählkompetenz.


Zuallererst fehlt jegliche intrinsische Motivation, die Geschichte nochmals zu erzählen. Alle anderen Anwesenden kennen sie ja schon. Das oft vorgebrachte Argument, dass Kinder ab und an eine Geschichte mehrmals hören wollen, greift nicht: denn es ist ein fundamentaler Unterschied, ob ein Kind den Wunsch verspürt, sich erneut mit einer Geschichte zu beschäftigen, weil es sie noch nicht vollständig erschlossen hat, oder ob es von einem Erwachsenen zu klar erkennbar anderen Zwecken aufgefordert wird, die Geschichte noch einmal zu erzählen und nicht davon ausgehen kann, dass sie wirklich jemand um ihrer selbst willen hören will. Die Motivation zu sprechen muss sich also aus einer extrinsischen, eben nicht der Freude am Erzählen entspringenden Quelle speisen: nämlich sich an das Richtige zu erinnern und das Richtige zu sagen.


Damit sind wir beim Falsch-Richtig-Dualismus, der die Schule ohnehin schon mit großer Übermacht regiert. Bei der Abfrage der Inhalte einer zuvor gehörten Erzählung (so müsste man die Übung eigentlich treffend nennen) geht es mindestens implizit bei jeder Äußerung darum, ob das nun Gesagte beim letzten Mal tatsächlich so erzählt wurde oder nicht. Eine Abweichung oder Variation vom zuvor Gehörten - oder eher von der kollektiven Erinnerung daran - ruft meist  den Widerspruch der anderen Schüler*innen hervor oder wird zumindest markiert. Damit aber entsteht ganz schnell eine Dynamik, wonach eine bestimmte Äußerung vom Kollektiv als „richtig“ gebilligt wird, alle anderen aber als „falsch“. Dies schüchtert diejenigen Schüler*innen, die sich ihrer Antwort nicht sicher sind oder eine niedrige Frustrationstoleranz haben, ein und blockiert einen möglicherweise vorhandenen Impuls zu erzählen.


Da des weiteren in einer frontale Situation - ein oder zwei Erwachsene und eine Gruppe von Kindern - die Aufmerksamkeit und die Zuwendung eines Erwachsenen eine begehrenswerte, aber knappe Ressource darstellen, führt der oben geschilderte Falsch-Richtig-Dualismus schnell zu einem Wettbewerb um die Gunst des Erwachsenen, die deutlich besser durch richtige Antworten erlangt werden kann, als durch falsche - auch dies ein Spiel, das Schüler*innen in klassischen Unterrichtssituationen tagtäglich erleben müssen. Ich habe als Hospitant Situationen erlebt, bei denen dieser Wettbewerb zur wichtigsten Dynamik in der Gruppe wurde und jegliche Beschäftigung mit der Geschichte in den Hintergrund drängte. Und das kann nicht im Sinne des Erfinders sein.


Schließlich führt der Wettbewerbscharakter dazu, dass sich dabei, wie leider viel zu oft, diejenigen durchsetzen, die sich am engagiertesten und deutlichsten melden, oder die die geringste Angst oder Frustrationstoleranz oder die größte soziale Kompetenz im Umgang mit pädagogischem Personal besitzen. Eine Dynamik, die sich durch Wiederholung verstärkt und eingefahrene Strukturen weiter verfestigt. Auch hierbei bleiben die Erzählkompetenzen vor allem der zurückhaltenderen Schüler*innen auf der Strecke.


Was ist denn nun die Alternative, wenn man aus pädagogischer Überzeugung unbedingt an der expliziten Aufforderung, eine zuvor gehörte Geschichte zu erzählen, festhalten will? Dafür wäre es zunächst wichtig, eine intrinsische Motivation zu wecken: indem nämlich der Erzählende weiß, dass der Zuhörende die Geschichte noch nicht kennt. Wer darüber hinaus die Falle des Falsch-Richtig-Dualismus und des Wettbewerbs um Aufmerksamkeit vermeiden will, kommt nicht umhin, jedem Erzählenden sein eigenes Publikum zu geben. Ein wunderbar dafür geeignetes Modell ist z.B. die Erzählbrücke, das Projekt einer Grund- und Mittelschule in Neuendettelsau (Mittelfranken), bei dem Schüler*innen einer dritten und einer achten Klasse sich regelmäßig treffen und sich  in Zweierpaaren jeweils neue Geschichten erzählen, die sie zuvor in ihren Klassen vorbereitet haben. Der große Alters- und Entwicklungsunterschied sorgt im Übrigen für eine günstige Dynamik (Beschützerinstinkt auf der einen, Dankbarkeit für die Aufmerksamkeit eines Größeren auf der anderen Seite). Ja, das ist aufwändig, fordert Absprachen und Ressourcen. Eine wirklich effektive Förderung der Erzählkompetenz unter diesen Prämissen hat nunmal ihren Preis. Darüber hinaus gibt es ja noch jede Menge andere wunderschöner und einfach umzusetzender Methoden, die Erzählkompetenz der Schüler*innen auszubauen. Wenn man halt nicht auf der Reproduktion einer Geschichte in einer Gruppe besteht, die sie schon kennt.


Vielleicht kann man diese Reproduktion ja auch völlig ungesteuert dem Leben, wie es ist, überlassen? Indem ich nämlich als Erzähler*in so ein gutes Vorbild im Erzählen bin, indem ich den Schüler*innen soviel Freude am eigenen Erzählen und dem Zuhören vermittle, dass sie irgendwann ganz von alleine, ungefragt, unkontrolliert und selbstbestimmt anfangen zu erzählen, außerhalb der Unterrichtssituation, möglicherweise schon auf dem Schulhof, oder aber zuhause beim Essen oder vor dem Schlafengehen oder oder....

Wir werden zumeist nicht davon erfahren. Samen aber haben die Tendenz, aufzugehen. Das ist bei gut erzählten Geschichten nicht anders.


Die Kollegin hat sich nach unserem Gespräch entschlossen, auf das „Nacherzählenlassen“ in ihrem Projekt zu verzichten. Zum Abschluss des Telefonats machte sie eine Bemerkung, die das Ganze vielleicht sogar noch besser auf den Punkt bringt als meine grantigen Ausführungen dazu: „Wir sind schließlich keine Papageien.“ Recht hat sie.


Martin Ellrodt, April 2017

Kontakt: martin(rollmops)ellrodt.de