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Mit Worten Welten erschließen


Wie soll man eine Geschichte erzählen? Bei Martin Buber, in der Einleitung zu den "Erzählungen der Chassidim", heißt es dazu: "Man bat einen Rabbi, dessen Großvater ein Schüler des Baalschem (das ist der als heilig verehrte Gründer der chassidischen Bewegung im 18.Jhdt.) gewesen war, eine Geschichte zu erzählen. 'Eine Geschichte', sagte er, 'soll man so erzählen, daß sie selbst Hilfe sei.' Und er erzählte: 'Mein Großvater war lahm. Einmal bat man ihn, eine Geschichte von seinem Lehrer zu erzählen. Da erzählte er, wie der heilige Baalschem beim Beten zu hüpfen und zu tanzen pflegte. Mein Großvater stand und erzählte, und die Erzählung riß ihn so hin, daß er hüpfend und tanzend zeigen mußte, wie der Meister es gemacht hatte. Von der Stunde an war er geheilt. So soll man Geschichten erzählen.'"


Soll man wirklich? Es ist eine typische chassidische Geschichte, die mehr Fragen aufwirft als sie beantwortet.
Ein professioneller Bühnenerzähler, der seine Stücke in aller Regel häufiger vorträgt, wird vielleicht auf die Einmaligkeit des erzählten Vorgangs hinweisen und fragen, was er mit dieser Aufforderung anfangen soll. Was hilft ein so hoher Anspruch? Soll man sich so hinreißen lassen? Hängt ein so hohes Maß an Identifikation nicht auch vom jeweiligen Temperament ab? Ist ein solches Ausmaß an Expressivität überhaupt wünschenswert und künstlerisch vertretbar? Und wenn ja - wie kann das gelingen?
Ich möchte diese Geschichte zum Anlass nehmen, ein paar fragende Blicke auf Erzählen und Theater zu richten, nicht zuletzt deswegen, weil ich seit geraumer Zeit selbst etwas betreibe, was sich als Erzähltheater bezeichnen lässt.


MODEN
Irre ich mich oder ist in den letzten Jahren tatsächlich "Erzähltheater" in Mode gekommen? Angesichts vieler Produktionen, die sich so bezeichnen, kann man sich schon fragen, ob da wirklich eine neue Theatergattung entsteht. Oder breitet sich lediglich ein Begriff aus für etwas, das ohnehin schon existiert? Vielleicht verbirgt sich am Ende gar nichts Spezifisches unter dieser Bezeichnung? Ja, was hat man überhaupt unter Erzähltheater zu verstehen? Und was sagen die Eltern, ERZÄHLEN und THEATER, dazu? Soweit ich das feststellen kann, ist "Erzähltheater" als Genre noch relativ wenig befragt worden - wenn man es etwa mit neuen Formen des Figurentheaters vergleicht. Aber der Begriff ist in der Welt. Und um es gleich vorwegzunehmen: die Begriffsbestimmung, die Abgrenzung etwa vom Schauspiel, erweist sich als nicht ganz einfach. Wenn es hier überhaupt eine Grenze gibt, dann ist sie sehr durchlässig. Aber genau darin könnte der Reiz liegen, der dazu beigetragen hat, das Erzähltheater als Darstellungsform so verbreiten zu helfen.


BEGRIFF
Erzähltheater ist zuallererst eine Formbeschreibung. Was genau aber macht die Form aus, auf die sich der Begriff bezieht? Wie könnte man sie von anderen Theaterformen sinnvoll abgrenzen? Wer von Theater spricht, denkt dabei ja in den allermeisten Fällen an Schauspiel - an die Verkörperung einer Rolle durch einen Menschen, an die Darstellung einer (Bühnen-)Handlung in der (Bühnen-)Gegenwart. Darum will ich auch zunächst die personale Darstellung betrachten und später den Blick auf andere Theaterformen richten.
Während also im Schauspiel (und vergleichbaren Formen) eine Handlung "jetzt geschieht", sich als gegenwärtiges Geschehen vor aller Augen vollzieht, formt das Erzähltheater - zumindest anfangs - aus der Distanz heraus: etwas bereits Geschehenes, Geschichte eben, wird (nach-) erzählt. Im Sprechtext z.B. wird das deutlich durch den Gebrauch der 3.Person oder der Vergangenheitsform. Der Bühnenerzähler spricht dabei entweder selbst - unter eigenem Namen - zum Publikum . Oder er ist eine Kunstfigur, spielt also eine Rolle, doch wendet er sich in dieser Rolle erzählend unmittelbar an das Publikum und adressiert es als seine Zuhörer. Hiervon unterscheiden würde ich die Formen, bei denen die Bühnenfiguren in ihrer Rolle und einander etwas erzählen und wir ihnen beim Zuhören zuschauen. Das ist nicht gerade selten und soll darum im 2.Teil dieser Betrachtung ebenfalls kurz gestreift werden. Den Begriff "Erzähltheater" jedenfalls würde ich zunächst von der performativen Situation aus zu bestimmen versuchen: eine sich selbst als Erzähler definierende Person tritt unmittelbar einem als Zuhörer adressierten Publikum gegenüber.
Wann kommt jetzt aber das Theater ins Spiel?
Mit der Darstellung, dadurch, dass das Geschehene in die (Bühnen-)Gegenwart eintritt. Dadurch etwa, dass der Erzähler -und sei es in Nuancen - seine Stimme, seine Haltung, seine Mimik verändert und eine Rolle anzudeuten beginnt. Aber könnte man nicht sofort einwenden, dass er in dem Maße, wie er darzustellen beginnt, aufhört, Erzähler zu sein? Gibt es hier überhaupt ein spezifisches Erzähltheater? Oder - auf die kleine chassidische Geschichte vom Anfang bezogen: erst wird erzählt, dann wird dargestellt; aber passt dazwischen noch ein Haar, das sich definitorischen Spaltversuchen widersetzt, etwas, das man als Erzähltheater bezeichnen könnte? Oder bezieht sich der Begriff genau auf diese flüchtige Sekunde, den Übergang vom DAMALS ins JETZT, dieses "die Erzählung riß ihn so hin..."? Dann würde "Erzähltheater" vielleicht etwas dem Wesen nach Transitorisches bezeichnen. Aber könnte es nicht sein, daß gerade dieses Überschreiten das Medium so interessant macht? Denn der Erzähler kann ja auch zurück, kann sich selbst wieder in Erinnerung bringen und dann wieder in die Geschichte eintauchen. Und wir genießen es, dabei zuzuschauen, wie vor uns mit offenen Karten gespielt wird.
Doch wie sieht der Schritt ins JETZT praktisch aus?


VORHÄNGE
Das Ausstattungstheater hat es am leichtesten, das JETZT herzustellen. Der Vorhang geht auf, und es präsentiert eine eigene Welt, durch Bühnenbild, Kostüme und Schauspieler, die eine Rolle behaupten.
Der Erzähler muss einen längeren Anlauf nehmen. Er muss den Schritt in die erzählte Wirklichkeit, vom Ich zur Rolle, von der Erzählung zur Darstellung vor aller Augen und Ohren tun. Er kann in stimmlichen, gestischen und mimischen Nuancen allmählich von der Erzählung zur Darstellung gelangen. (Und ich unterstelle, dass jeder Bühnenerzähler auf irgendeine Weise an der Erzeugung von Gegenwart arbeitet, auch der "pure" Erzähler, der keine expliziten Theatermittel einsetzt, will seine Geschichte doch gegenwärtig erfahrbar machen!) Er kann aber auch - im übertragenen Sinn - Vorhänge öffnen, z.B. durch die gezielte Verwirrung seines Publikums. Der klassische Märchenerzähler kennt das vom sogenannten Vormärchen, das in der slawischen und besonders ausgeprägt in der türkischen Tradition die eigentliche Erzählung einleitet. Hier ein Beispiel für ein typisches türkisches TEKERLEME (=Vormärchen):
 
Aus einem Guss, aus einem Fluss, drei Burschen krochen aus der Nuss, zwei davon sind nackt und bloß, einer ohne Hemd und Hos‘.
In der Brusttasche des nackten Burschen fand ich drei Groschen. Die nahm ich und ging damit auf den Markt. (...) Ich kaufte eine Melone. Als ich sie aufschnitt, rutschte mein Messer hinein. Wie ich das Messer herausziehen will, plumpste meine Hand hinein. Wie ich meine Hand hinausziehen will, fiel ich selbst hinein. Ich hob den Kopf und schaute aus der Melone. Ein Mann kam vorbei und gab mir eine Ohrfeige. Mein Kopf riss ab und eilte zum Holzmarkt, um dort Zwiebeln und Knoblauch zu verkaufen. Ich lief hinterher - es gab eine Riesenstreit: "Du bist mein Kopf!" "Ich bin nicht dein Kopf!" (...) Wir brachten die Sache schließlich vor den Richter. Der war nicht zuhause, er saß auf dem Linsenbaum und pflückte Linsen. (usw.usf. - Der Richter fällt beim Herabsteigen von der vierzigstufigen Leiter.) Der Kadi ist verschieden, der Kopf ist mir geblieben.


Es war einmal in alten Zeiten, da lebte ein Sultan, der hatte eine sehr schöne Tochter.......


Die Funktion solcher Texte liegt auf der Hand: sie spielen mit den Zuhörern und ihrer Erwartung, enttäuschen sie, führen sie in Fallen, verwirren sie und lösen sie so von ihrem Alltag, ihrem aktuellen Erfahrungshintergrund ab, schaffen eine tabula rasa, eine Projektionsfläche für die eigentliche Geschichte, die nun folgt. Im gleichen Atemzug geht der Erzähler in seinem Text von der 1.Person in die 3.Person über. Jetzt sind die Zuhörer in der Geschichte angekommen, sie sind "da". (Das Eröffnungsritual des Kasperltheaters spricht übrigens auch nichts anderes an: die Zuschauer sollen erklären, dass sie "da" sind. Das ist, wenn man so will, ein Vorhang vor dem Vorhang.)
Auch in unserer kleinen chassidischen Geschichte öffnen sich Vorhänge: Buber erzählt von einem Rabbi, der davon berichtet, wie sein Großvater einst eine Geschichte erzählt hat. Wir durchschreiten also mehrere Rahmen. Und: sowohl der Rabbi als auch der Großvater werden zum Erzählen aufgefordert. Begreift man Erzählen als dialogischen Vorgang zwischen Hörer und Erzähler, dann kann man die doppelte Aufforderung hier so zu interpretieren versuchen, dass Buber uns, die (fernen) Leser einstimmt, indem er eine Art Unterdruck erzeugt - allmählich wollen auch wir wissen, was der Großvater zu erzählen hat. Wir sind angekommen.
Hier aber haben wir nur das Skelett einer Rahmenhandlung. Ich überlasse es der Phantasie eines jeden, sich einen echten Handlungsrahmen vorzustellen und erinnere an all die Versuche, zu Beginn einer Aufführung ein JETZT zu inszenieren: der plötzlich erkrankte Hauptdarsteller, der vom Hausmeister ersetzt werden muss, die Putzfrau in der Garderobe der Opernsängerin, die verschwundenen Tiere in der Dressurshow - alles Aufhänger, um bewusst nichtillusionistisch arbeiten zu können und eine Geschichte aus der definierten Situation heraus zu entwickeln. Oft ist es der Zwischenfall, der inszenierte Unfall, der uns zum Fall ins JETZT führen soll.


ILLUSTRATION
In der Geschichte vom tanzenden Gelähmten geht, wie wir bereits gesehen haben, die Erzählung des Großvaters in die Darstellung über, sie folgen aufeinander. Es ist aber auch möglich, auf der Bühne Gleichzeitigkeit herzustellen, sogar dem Solisten: dass sich Erzählung und Darstellung als aufeinander bezogene Texte begleiten.
Spätestens hier stellt sich allerdings die Frage der Illustration. Das heißt, eigentlich sind es ja zwei Fragen; die eine kommt aus Erzähler-Kreisen, die andere aus dem Theaterumfeld.
Von Seiten der puren Erzähler lässt sich oft vernehmen: Ist das bloße Erzählen nicht ausreichend? Braucht es überhaupt Bilder, Theater, Musik dazu? Verhindert das nicht die gern beschworenen "inneren Bilder"? - Ich halte das kurz gesagt für eine nichtkünstlerische Frage. Ein Künstler sucht die Herausforderung in einer Geschichte und hofft, durch seine Gestaltung ein MEHR zu erreichen, und sei es nur in einer bestimmten Richtung. Bach etwa war sicher überzeugt, dass der Bibeltext für sich allein stehen kann. Und doch sind wir froh, dass er sich an eine Matthäuspassion gewagt hat.
Die andere Frage hinsichtlich der Illustration kommt vom Theater her. Hier hat man sich angewöhnt, den Begriff mit spitzen Lippen auszusprechen und einander zu versichern, dass man selbstverständlich nicht illustriert. Diese Beteuerung ist vor allem eines: langweilig. Viel spannender wäre es doch, über verschiedene Möglichkeiten von Illustration zu sprechen und über Wege, damit zu spielen.


"Dasjenige nur allein ist fruchtbar, was der Einbildungskraft freies Spiel lässt. Je mehr wir sehen, desto mehr müssen wir hinzudenken können. Je mehr wir darzu denken, desto mehr müssen wir zu sehen glauben", heißt es bei Lessing.


Ein Zuschauer wird gleichzeitig empfangene Sinneseindrücke immer in Bezug setzen und das eine als Illustration, Kommentar, Ergänzung des anderen zu lesen versuchen. Das hat schlichtweg neurologische Gründe. Ich betrachte es als Herausforderung, mit dieser Zuschauererwartung schöpferisch umzugehen, also z.B. ein Bild mal nah am Sprechtext zu entwickeln und das nächste dann wieder in assoziativer Ferne, in wechselnden Distanzen also und durchaus mit dem Ziel, den Zuschauer auch einmal zu verwirren, um seine Sinne in Bewegung zu setzen.
Und wieder fragt sich: wie kommt hier das Theater ins Spiel?
Für den Solisten ist wohl der klassische Moritatensänger das nächstliegende Beispiel. Der Moritatensänger ist noch ganz nah am Erzählen angesiedelt. Er erzählt singend und zeigt auf vorbereitete Illustrationen. In aller Regel bleiben Bilder und Geschichte separate Texte, Bilder mit Untertiteln, gewissermaßen mit Tonspur, Erzählung mit Bebilderung, vielleicht nicht ohne Reiz, aber noch nicht Theater. Doch vielleicht ganz kurz davor, und wenn hier Verschmelzung gelingt, wenn sich Sprech- und Bildtext verflechten, wenn sich fließender oder fliegender Wechsel vollzieht, das Spiel mit beiden Sprachen - dann fängt, möchte ich meinen, das Theater an. Vielleicht bei performance-ähnlichen Präsentationen, wo Bilder im Augenblick der Erzählung gemalt oder gezeichnet werden. Oder wo beim Umgang mit Gegenständen oder Materialien Physik mit in Spiel kommt, Schwerkraft, Zufall. Wo die Bilder selbst beweglich sind. Wo das Bildmaterial anfängt, die Geschichte zu erzählen, und der ursprüngliche Protagonist in die zweite Reihe tritt, ausführendes Objekt wird und die Geschichte von seinen Bildern abliest.
Im Ensemble ist Gleichzeitigkeit von Erzählung und Darstellung natürlich viel einfacher zu verwirklichen, zumal mit den Möglichkeiten des Rollentheaters: einer erzählt (oder mehrere), einer spielt (oder mehrere), mal stärker, mal weniger stark aufeinander bezogen, gleichzeitig oder versetzt, und die Rollen können getauscht werden. Erzähler und Darsteller agieren gleichzeitig, miteinander und gegeneinander. Wer "Die drei Leben der Lucie Cabrol" in der Inszenierung von Simon McBurney / Theatre de la Complicité erlebt hat, weiß, wie so etwas auf der Bühne aussehen kann.


FIGUREN
Wo Erzähler und Darsteller getrennte Körper sind, wo die Spieler auf die eine oder andere Weise bildendes Material einer Geschichte werden - da sind wir in den Bereich einer anderen Theaterform gelangt, ins Figurentheater. Damit möchte ich alle die szenischen Darstellungsformen bezeichnen, in denen ein (menschlicher) Protagonist mit einem Material umgeht, seien es Puppen, Gegenstände, Bilder (oder andere Zeichenträger) Rohstoffe oder eben auch andere Menschen.
Das moderne Figurentheater ist, so möchte ich sagen, der Bereich, in dem sich z.Zt. die eigentliche Weiterentwicklung des Erzähltheaters vollzieht, stärker als in der Berührung etwa mit Tanz oder Musik. Deutlich wird diese Wendung zum Figurentheater beispielsweise im Hinblick auf die oben angesprochenen inszenierten Zwischenfälle: hier werden oft - im Einverständnis mit dem Publikum - szenische Provisorien eingesetzt, zweckentfremdete Gegenstände z.B., die etwas anderes darstellen sollen, als sie wirklich sind, und deren "wirkliches Sein" lustvoll in Frage gestellt wird. Das aber ist die typische Sichtweise des Figuren- und Objekt-Theaters.
Überhaupt scheint das Figurentheater eine Entwicklung vorweggenommen zu haben, die nun auf jeweils spezifische Weise von anderen Theaterformen nachvollzogen wird. In den letzten 20 Jahren hat sich hier die sog. offene Spielweise durchgesetzt: der Puppenspieler/Animateur/Protagonist agiert nicht mehr versteckt hinter einem Guckkasten; er tritt aus dem Dunkel, steht nun neben seiner Figur und wird als Autor des Bühnengeschehens sichtbar. Mehr noch: die Absage an ein illusionistisches Spiel erlaubt es ihm, gleichberechtigt mit seiner Figur zu agieren. Wenn man auf das oben so bezeichnete "Spiel mit offenen Karten" blickt, so liegen, meine ich, die Parallelen auf der Hand: auch der Erzähler bleibt sichtbar, durch seine Person erinnert er daran, daß etwas Vergangenes verhandelt wird, während gleichzeitig Bilder, Zeichen und Gesten eine inszenierte Gegenwart vermitteln. Der Erzähler kann zwischen den Zeiten wechseln, zwischen Erzählung und Darstellung, zwischen Distanz und Nähe. Er ist dabei Lotse und Fährmann - und das um so mehr, als er als Erzähler erkennbar bleibt.
Vielleicht gibt es ein allgemeines Misstrauen gegenüber illusionistischem Spiel, ein Unbehagen an der Rolle, das aktuell ganz verschiedene Theaterformen speist? Ich habe in den letzten Jahren einmal versucht, auf Schauspiel-Inszenierungen zu achten, in denen das Textbuch auf der Bühne ganz sichtbar mit dabei ist. Augenfällig wird das z.B. bei der englischen WOOSTER-Group, über deren Arbeit es heißt:
"Die Darsteller müssen selten ihre Rollen auswendig lernen; statt dessen lesen sie ihren Text ab und erzeugen, indem der Schauspieler von der handelnden Person des Stückes zu seiner oder ihrer Persönlichkeit überwechselt, eine anhaltende Spannung. Indem sie ihre Rollen lesen, erkennen die Schauspieler die Existenz eines Textes ausdrücklich an.(....) Der Zuschauer wird (....) in die unmittelbare Gegenwart des Bewusstsein erlangenden Entstehenden gestürzt, in die unmittelbare Gegenwart von Ideen, denen körperliche Gestalt verliehen wird." (Kathy Halbreich in Parkett 17/1998)


Das Spiel mit Distanz auf Seiten der Darsteller soll also auch hier durch eine Art (feinen) Unterdruck den Zuschauer in die Nähe des Vorgetragenen bewegen: die Idee ist, dass das Publikum den freigelassenen Raum selbst besetzt.
Ob das funktionieren kann? Immerhin ist es ein Versuch, das dialogische Prinzip mit theaterspezifischen Mitteln zu realisieren, und das macht solche Entwicklungen auch für das Erzähltheater interessant. Das Prinzip des Dialogs zwischen Erzähler und Hörer, am deutlichsten vielleicht im "call and response" etwa der nativen afrikanischen Erzähler, ist ja wohl ein Wesensmerkmal des Erzählvorgangs. "Es ist nicht der Mund, es ist das Ohr, das der Erzählung gebietet," heißt es bei Italo Calvino. Damit ist aber eine Aufgabe formuliert, die sich dem Theater sofort stellt, wenn es sich nach dem Verschwinden der klassischen Erzählgemeinschaften als Ort für Erzählen anbietet und anschickt, neue Erzählsituationen zu schaffen: Der Sprecher, der im Scheinwerferlicht seine Hörer in aller Regel nicht sehen kann, die Hörer, die zum Bühnenerzähler aufblicken, die Aufforderung zum Erzählen, die durch den Kauf der Eintrittskarte nur noch konkludent geäußert wird, die Antwort des Publikums, die sich (hoffentlich) in Lachen äußert und meist auf den rituellen Schlussapplaus beschränkt bleibt - all das sind doch Aspekte, die es nur sehr begrenzt erlauben, hier von einem Dialog zu sprechen, und die nachdrücklich die Frage nach einer eigenen Performatorik stellen. Das wäre über den Rahmen meiner Überlegungen hier hinaus vielleicht einmal eine eingehendere Betrachtung wert.
Der Performatorik des klassischen Schauspiels ist das Erzählen ja alles andere als fremd, nur hat es einen eigenen Weg genommen, es in seine Formensprache zu integrieren: es holt die Erzählsituation vollständig auf die Bühne - auch die Zuhörer werden von Schauspielern dargestellt, und deren Reaktionen sind Bestandteil der Rolle.
Ich erinnere nur an all die Boten des antiken Theaters! Wie viel wird da in der 3.Person erzählt, wird berichtet, was diese taten und jene erlitten. In Äschylos` "Persern" etwa steht eine Erzählung im Zentrum: wir erleben mit, wie ein Bote der Mutter des Perserkönigs ausführlich von der verlorenen Schlacht bei Salamis erzählt:
 
"Ein Griechenschiff führte den Angriff an,
riss einem Tyrer allen Schmuck vom Steuerbord."
 
Und in "König Ödipus" sind wir Zeugen, wie dem Herrscher nach und nach seine eigene Geschichte enthüllt und erzählt wird - genauer: seine Vorgeschichte, die die Bühnengegenwart zu erhellen hilft und den König schließlich dazu führt, sich zu blenden. Ja, "König Ödipus" kann geradezu als Drama um das Erzählen betrachtet werden, um das Nicht-Sehen-Wollen und Doch-Hören-Müssen. Und wir erleben Ödipus oder Atossa, die Mutter des Perserkönigs, beim Zuhören: wir sehen/hören Ihnen beim Zuhören zu. Wir erleben ihre (von Schauspielern dargestellte) Erschütterung, und - so mag es die Hoffnung der Autoren gewesen sein - wir teilen sie vielleicht. Wir identifizieren uns aus der Distanz heraus.
Dass sehr viele klassische Geschichtensammlungen genauso vorgehen, nämlich die Erzählsituation mit behandeln, einen Zwischenerzähler einfügen sowie Zuhörer, die stellvertretend für uns der Geschichte folgen, sei hier nur am Rande angemerkt, besonders deutlich ausgeführt in den Canterbury Tales oder in Hauffs Märchenzyklen. Und das gilt für viele Erzähler der Weltliteratur ganz genauso. Im Theater ist man natürlich versucht, auf den ökonomischen Vorteil der narrativen Form zu schauen. Äschylos erspart sich die Darstellung einer ganzen Seeschlacht, und Sophokles muss nicht die über Jahrzehnte reichende Vorgeschichte auf die Bühne bringen. Ob sie in dieser Weise ökonomisch gedacht haben? Nun, immerhin hat ihnen die Erzählform erlaubt, aus der theatralen Einheit von Raum und Zeit auszutreten und - einmal mehr - Vergangenes im Jetzt erfahrbar zu machen. Wenn es - wie jetzt beim Erzähltheater - um aktuelle Strömungen geht, erscheint ein Seitenblick aufs Geld allerdings nur allzu berechtigt: Hat hier auch wirtschaftlicher Druck mit bewirkt, eine bestimmte Theaterform zu fördern? Mag sein; doch denke ich, dass die viel gepriesenen "einfachen Mittel" weder wesenstypisch für das Erzähltheater sind noch ein Qualitätsmerkmal schlechthin darstellen. Ein aufwendiges Theater ist nicht schlechter durch das Maß seiner Ausstattung. Es kommt doch (Binsenweisheit!) in jedem Einzelfall darauf an, was mit den eingesetzten Mitteln jeweils erreicht wird. Geldarmut schafft nicht automatisch Ideenreichtum, zwingt allerdings oft, sich mindestens einen Gedanken mehr zu machen, und das hat dem Produkt noch meistens genutzt.


DER LAHME TANZT
Nun war im Vorigen viel von Distanz die Rede, und das mag auch einem Zeitgeist geschuldet sein, dem eine distanzierte Haltung näher liegt als sichtbare Identifikation. Aber das sollte doch deutlich geworden sein: die Entfernung ist dazu da, um überwunden zu werden. "Vollkommenheit", heißt es bei Thomas von Aquin sinngemäß, "liegt nicht in der Erkenntnis, sondern in der Stärke des Ergriffenseins". Und hier sehe ich die Chance des Erzählers. Anfangs teilt er unsere Distanz, doch seine Kunst besteht darin, uns mitzunehmen. So verweist auch die Rabbi-Geschichte auf etwas weiteres, auf einen durchaus als magisch zu bezeichnenden Vorgang: es wird - insofern erzähltypisch - Erinnerung beschworen, und plötzlich erlangt der Erzähler etwas von den sagenhaften Heilkräften des Baalschem Tov. Nicht Imitation, nein, Identifikation weckt diese Kräfte, weckt auch den eigenen Funken und hält ihn in Glut. Vielleicht wird damit auch das Feuer der Zuschauer und Zuhörer angefacht. Der Baalschem soll selbst durch Geschichten - Erzählen gewirkt haben. Martin Buber, der Philosoph des dialogischen Prinzips, beschreibt dessen Kunst so, dass beim Erzählen jeder Zuhörer glaubte, der Baalschem wende sich mit seiner Geschichte gerade an ihn, und er fährt fort:
"Und doch war es keine Ferne, was die Erzählung sagte, sondern jedem erwachte unter der Berührung ihres Wortes die heimliche Melodie, die verschüttete, totgewähnte, und jeder empfing die Botschaft seines verlorenen Lebens, dass es noch da war und nach ihm verlangte."
Das wäre allerdings die Kunst.


Jörg Baesecke, Pullach im Juli 2000

Kontakt: info(rollmops)theater-rebus.de

Erzähltheater: Fragen an eine Form


von Jörg Baesecke